Als ob nichts gut sein darf

LohreDie Kinder der Kriegskinder, die zum größten Teil in den 60er Jahren geboren wurden, wuchsen in materiellem Wohlstand und ohne die Leiden des Kriegs auf. Ihre Eltern waren im Krieg Kinder, die Meisten von ihnen gar nicht einmal direkt betroffen von den Schrecken des Krieges. Dennoch erleben deren Kinder noch als Erwachsene vielfach lähmende Ängste, unbegründete Sorgen um ihre existenzielle Sicherheit und das Gefühl nie gut genug zu sein und sich nicht wirklich freuen zu dürfen über das Leben oder ihre persönlichen Erfolge. Das Streben nach Perfektionismus prägt vor allem die Frauen unter ihnen. Dass Kriegskinder den Krieg als traumatisch erlebt haben, ist bekannt, dass auch die Kriegsenkel betroffen sind, weniger.

Der Journalist Matthias Lohre geht nach dem mysteriösen und tödlichen Falschfahrerunfall seines 80-jährigen Vaters auf Spurensuche. Mehr und mehr entdeckt er in Gesprächen mit den letzten Zeitzeugen hinter seiner freundlosen und disziplinierten Kindheit die Störungen in seinem eigenen Leben: seine Existenzangst und ein Perfektionismus, der ihn häufig bis weit über seine Grenzen in die Nähe des burnout bringt. Er stösst auf Mythen, die in Zusammenhang mit jüdischen Nachbarn entstanden und findet hier die Ursache der familiären Probleme.

Die Kriegskinder haben ihren eigenen Kindern zwar nicht ihre Traumata vererbt, aber den Umgang damit: Schweigen, diffuse Angst, Gefühlskälte. Die heute erwachsenen Kriegsenkel erlebten bei ihren Eltern einen Nebel, der jede Freude, jede Lebendigkeit ersticken wollte, immer mit dem Ziel zu funktionieren und nicht aufzufallen. „Sei still“, „tu uns das nicht an“, das sind nur einige dem Autor sehr vertrauten Redewendungen seiner Kindheit, die mehr als 75 Jahre nach Kriegsende vermutlich noch in Millionen von Menschen noch nachhallen und deren Leben in Form von chronischem Stress beeinflussen. Sich diese Mechanismen bewusst zu machen ist zwar bedrückend, aber auch erhellend und befreiend!