Für ein hohes Selbstwertgefühl wollen wir den eigenen Ansprüchen genügen und auf jeden Fall besser sein als Andere. Das führt einerseits zu einer Abwertung Anderer und andererseits zur Selbstverurteilung, weil wir in irgendetwas ungenügend und unperfekt sind. Wenn wir aufhören, uns ständig selbst zu bewerten, können wir uns das Mitgefühl entgegenbringen, das wir guten Freunden im Umgang mit deren Fehlern und Schwächen zeigen.
Kristin Neff, Professorin für Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung, ist anerkannt für ihre wissenschaftlichen Forschungen auf dem Gebiet des Selbstmitgefühls.
Im Unterschied zum Selbstwertgefühl benötigen wir für das Selbstmitgefühl nicht die Bewertung oder Abwertung von Anderen und uns selbst. Wir versuchen nicht, Anderen den Fehler zuzuweisen, sondern übernehmen die Verantwortung dafür, behandeln unsere Schwächen und Fehler aber voller Mitgefühl.
Der Grund für die Abwertung Anderer liegt im Wunsch unseres Gehirns nach Stabilität und Sicherheit. Da wir in sozialen Gruppen leben, “…ist die Wahrscheinlichkeit einer Zurückweisung für dominante Gruppenmitglieder geringer, und sie haben auch einen besseren Zugang zu wertvollen Ressourcen.“
Daraus erklärt sich auch die Selbstkritik als Ausdruck der Unterordnung. Wenn wir unperfekt sind, gehen wir nicht in Wettbewerb mit den Rudelführern, sondern werden von diesen freundlich geduldet.
Nach Neffs Definition enthält Selbstmitgefühl drei wesentliche Bestandteile: Selbstfreundlichkeit, Verbundenheit und Achtsamkeit.
Freundlichkeit gegenüber Anderen basiert auf dem System der Fürsorge, das in unserem Gehirn angelegt ist und Selbstfeundlichkeit bedeutet, überzogene Bewertungen durch den inneren Kritiker zu vermeiden zu Gunsten eines mitfühlenden Umgangs mit sich selbst als einem ganz normalen und damit fehleranfälligen Menschen. Frühkindliche Bindungserfahrungen spielen auch hier eine wesentliche Rolle: Menschen mit einer unsicheren Bindungserfahrung haben weniger Selbstmitgefühl als solche mit einer sicheren Bindung.
Die Verbundenheit mit Anderen erinnert uns daran, dass alle Menschen schmerzhafte Erfahrungen machen und sich fehlerhaft fühlen. Statt sich isoliert zu fühlen, sind Menschen auch über diese Erfahrung kollektiv miteinander verbunden. Achtsames Gewahrsein schließlich ist die dritte wichtige Komponente.
Neff stellt Forschungsergebnisse vor, die belegen, dass Menschen mit einem höheren Grad an Selbstmitgefühl weniger dazu neigen, unerwünschte Gedanken und Emotionen zu unterdrücken als solche, denen es an Selbstmitgefühl fehlt. Sie gehen achtsam damit um und lassen sie wieder los. Die Unterdrückung negativer Gedanken hingegen führt zu Stress.
Neff verbindet die Erkenntnisse von Hirnforschung und Psychologie mit zahlreichen praktischen Übungen und beispielhaften Lebensgeschichten. Es ist ein fundiertes Sachbuch mit zahlreichen Quellenhinweisen und den zusätzlichen Tipps zur Umsetzung. Neff berichtet auch sehr offen über ihre eigene Lebensgeschichte und Entwicklung in der Selbstakzeptanz als Mutter eines nicht perfekten, nämlich autistischen, Kindes zu sein, eine Geschichte, die eine überraschende Wendung nimmt.
Bemerkenswert und spannend zu lesen!