Realitätsverlust: Gefahr für psychische Gesundheit

Das reale Leben scheint vielen kaum noch erträglich, sie flüchten in soziale Netzwerke, ins Gaming, ins Metaversum. Was mit hilfreichen digitalen Instrumenten zur Erleichterung des Alltags begann, setzt sich über künstliche Intelligenz immer weiter fort bis hin zu einem Transhumanismus, der den Menschen als störanfällig und fehlerhaft betrachtet.

In der konsequenten Fortführung dieser Idee sollen eines Tages Gehirndaten hochgeladen werden und das eigentliche Menschsein, das auf dem Körperlichen basiert, eliminiert werden. Dass hinter dem Transhumanismus vor allem materielle und finanzielle Interessen stehen, ist leicht erkennbar. Dennoch erliegen viele Menschen der Faszination der Digitalisierung. Der Körper wird als überflüssig betrachtet, als eine Maschine, die wie eine Maschine gewartet werden muss. Was das eigentliche Menschsein ausmacht, wird vergessen.

Prof. Dr.med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Arzt, Psychotherapeut und Autor zahlreicher Bestseller. Er sieht in der Mystik der Digitalisierung einen zunehmenden Eskapismus breiter Gesellschaftsschichten mit religiösem Status. Verblüffend sind seine Vergleiche mit der Mystik des Mittelalters, mit der die Menschen über ihren Glauben manipuliert und gesteuert wurden. Er stellt eine hohe Deckungsgleichheit fest und warnt davor, dass wir damit vor die Zeit der Aufklärung zurückfallen und Menschen (wieder) ihre Freiheit verlieren und fremdgesteuert werden. Für noch gefährlicher als den Realitätsverlust bewertet Bauer die Risiken für soziales Miteinander und vor allem für die individuelle psychische Gesundheit.

„Die Realität ist ein nicht beliebig belastbares, durchaus zerbrechliches Konstrukt…Zur Realität wird die Wirklichkeit vor allem dadurch, dass meine Wahrnehmung mit der anderer übereinstimmt, dass sie also zur gemeinsamen, sozial geteilten Wirklichkeit wird. Nur wenn über wesentliche Tatsachen Einvernehmen herrscht, macht ein Gespräch Sinn. Meinungsunterschiede sind dann kein Problem. Behaupten andere aber konsistent das Gegenteil von dem, was ein Mensch bei bestem Wissen und Gewissen klar als real zu erkennen meint, dann bleibt diesem nur, entweder einzulenken und seine Wahrnehmung anzupassen oder sein Gegenüber für verrückt zu erklären oder selber verrückt zu werden. Alle drei Varianten sind Teil unserer derzeitigen, von Realitätsverlust gekennzeichneten sozialen Realität… Die Gewissheit einer gemeinsamen Realität ist nicht nur die Voraussetzung für die Anerkennung von Realität als solcher. Sie ist auch die Grundlage für tragfähige zwischenmenschliche Beziehungen. Und sie ist Grundlage der eigenen psychischen Realität.“

Prof Bauer warnt vor dem Verlust der Humanität als Folge des Realitätsverlusts. Digitale Instrumente sind Teil unserer Welt und können uns vielfach unterstützen. Gefährlich wird es, wenn wir unser Menschsein darüber definieren und den Menschen als Maschine betrachten, dessen Kern eine Datensammlung ist, die man jederzeit auf ein beliebiges Speichermedium transferieren kann. Unsere Körperlichkeit ist wesentliche Voraussetzung für ein funktionierendes Gehirn. Gefährlich ist es insbesondere für die Gehirnentwicklung von Kindern. Diese benötigen die physische Realität (= körperliche Anwesenheit) von Menschen, über die sie sich spiegeln können und über die sie ihre Selbstwirksamkeit erleben. Der Mensch ist ein Kind der Evolution, der zwingend diese Verbindung zum eigenen Körper, zu anderen Menschen und zur Natur benötigt. Dies ausschließlich auf digitaler Ebene abzubilden, führt zum Realitätsverlust, von dem nur diejenigen profitieren, die uns als willfährige Konsumenten ihrer Produktwelten betrachten.

Fazit: Dies ist vielleicht Prof Bauers wichtigstes Buch, das viele Quellenhinweise enthält und die Sinne für Entwicklungen schärft, die unser Menschsein und unsere Entwicklung behindern und dazu führen, dass alle mit der Aufklärung verbundenen Fortschritte verloren gehen.