Das Ego- Kern emotionaler Leiden

Ist das Ich, mit dem wir uns identifizieren, real oder entsteht es vielmehr als Vorstellung über uns und die Welt in unserem Gehirn? Dieser Frage geht der Neuropsychologe Dr. Chris Niebauer hier nach.
Das westliche Denken unterscheidet sich sehr vom Östlichen. “Ich denke, also bin ich” steht für das westliche Denken mit der Definition des Egos als charakteristischem Merkmal des einzelnen Menschen. Im Zen-Buddhismus hingegen heißt es “kein Gedanke, kein Problem”.

Während wir im Westen daran arbeiten, unser Selbstwertgefühl zu stärken, geht es in der östlichen Philosophie darum, nicht an Gedanken und Gefühlen “anzuhaften”, also sie nicht festzuhalten, sondern als etwas Vorübergehendes zu begreifen und sie achtsam kommen und gehen zu lassen.

Dr. Chris Niebaumer erklärt die Berechtigung der buddhistischen Sichtweise über die Funktionsweise des Gehirns und die neueren Erkenntnisse der Neurowissenschaften. Folgt man diesen Erkenntnissen, gäbe es kein Denken und keine Reflektion über das Ego und daher auch kein Leiden daran.

Zwar sind unsere Gehirnhälften symmetrisch aufgebaut, doch gibt es  durchaus Unterschiede zwischen den beiden über den Balken miteinander verbundenen Hirnhälften, die sich in ihren Spezialisierungen ergänzen. Während Sprache in der linken Hirnhälfte erfasst wird, werden Informationen aus der rechten Hirnhälfte als “unbewusst” oder “intuitiv” erlebt. Sie können mittels Sprache nicht wiedergegeben werden, da Sprache eben keine Kompetenz der rechten Hirnhälfte ist. Sie ist der Kategorisierung und Interpretation nicht mächtig und benötigt dazu ihr linkes Pendant.
Die linke Hirnhälfte hingegen kann die ganzheitliche Sichtweise der rechten Hirnhälfte nicht erfassen, weil die Linke in Kategorien und Interpretationen arbeitet.
In zahlreichen Studien vor allem mit Split-brain-Patienten konnte diese Trennung in der Arbeitsweise der beiden Hirnhälften vielfach nachgewiesen werden. Festgestellt wurde dabei auch, dass die rechte Hirnhälfte zwar der Sprache im herkömmlichen Sinne nicht mächtig ist, aber sehr wohl ein selbständiges Verständnis ohne die linke Hirnhälfte entwickelt hat. Sie trägt zu einer umfassenderen Sicht auf die Welt bei, während die Linke die Aufmerksamkeit fokussiert und verengt. Zusammen mit der Rechten ergibt sich aus den zwei Teilen ein Ganzes.

In unserer Kultur herrscht allerdings die Dominanz der linken Hirnhälfte, weil sie der Sprache mächtig ist. Da zu deren Aufgaben neben der Kategorisierung auch die Bewertung und Interpretation von Erfahrungen gehören, entsteht daraus kein reales Abbild der Welt, sondern nur eine Konstruktion des Gehirns. Das Selbst, das Ego, entsteht also als Interpretation der linken Gehirnhälfte. Diese Interpretation soll in der östlichen Philosophie dadurch vermieden werden, dass man grundsätzlich davon ausgeht, dass es eine Fiktion ist, gewonnen aus den interpretierten Erfahrungen. Neurowissenschaftliche Studien über Meditation unterstreichen, dass Meditation auf die Selbstreflektion beruhigend wirkt.

Kein Ego, kein Problem. Das Buch macht nachdenklich und lässt den Leser den Unterschied zwischen rechter und linker Hirnhälfte über zahlreiche Übungen nachempfinden. Nicht mangelndes Selbstwertgefühl führt zum Problem des Leidens, sondern die Überzeugungen und Interpretationen der linken Hirnhälfte. Glauben wir also nicht alles, was uns diese glauben lässt. Darüber lässt sich tatsächlich mit einiger Übung eine gewisse Distanz zu den eigenen Gedanken herstellen.