Das entzündete Gehirn

Kognitive Aussetzer bringt man meist mit Alterserscheinungen in Verbindung, doch sind auch viele junge Menschen betroffen. Die an Morbus Crohn erkrankte Freundin der Autorin kämpft mit kognitiven Problemen, sie vergisst eines Tages, ihren Zweijährigen wieder mitzunehmen, nachdem sie den Älteren in den Kindergarten brachte. Selbst tief beunruhigt über ihren eigenen zunehmenden Verlust ihres Namensgedächtnisses und dem Versagen bei einfachsten Rechenaufgaben, beginnt die Wissenschaftsjournalistin Donna Jackson Nakazawa mit der Recherche nach einem von ihr vermuteten Zusammenhang zwischen einer körperlichen Erkrankung und kognitiven und emotionalen Beeinträchtigungen. Die von ihr im vorliegenden Buch kommunizierten revolutionären neurowissenschaftlichen Erkenntnisse waren bisher nur einem Fachpublikum zugänglich.

Jedes Körperteil und jedes Organ kann von Entzündungen betroffen sein. Dringen Erreger in den Körper ein, sollen sie vom Immunsystem unschädlich gemacht werden. Die weißen Blutkörperchen müssen schnell, aber auch angemessen mit einer Entzündung als Heilreaktion agieren. Wenn die Entzündungsreaktion jedoch nicht mehr angemessen, sondern überschießend ist, kann daraus eine Autoimmunerkrankung entstehen, die Reaktion schießt über und richtet sich gegen die eigenen Zellen. Im Gehirn, so glaubte man bis vor wenigen Jahren, gibt es diese Reaktion nicht, weil das Gehirn durch die Blut-Hirn-Schranke geschützt sei.

Die Mikroglia gehören zu den Versorgungszellen im Gehirn, ihre Aufgaben sind der Schutz und die Reparatur der Nervenzellen und ihrer synaptischen Verbindungen. Heute weiß man, dass die Mikroglia das Pendant im Gehirn zu den weißen Blutkörperchen darstellen und die Immunzellen des Gehirns sind.

Recht neu ist die Entdeckung, dass das Immunsystem des Gehirns mit dem des Körpers in Verbindung steht und ein permanenter Informationsaustausch über Gefahren erfolgt. Welche Wege genutzt werden, wird detailliert erläutert. Auf Gefahrinformationen aus dem Körper reagieren die Mikroglia höchst sensibel. Sie legen vorsichtshalber gefährdete synaptische Verbindungen still, d.h. sie zerstören sie. Eine Entzündung im Körper hat damit fast zwangsläufig eine Entzündung im Gehirn mit schießwütigen Mikroglias zur Folge. Diese sog. Neuroinflammation kann sich in kognitiven und neurodegenerativen Erkrankungen des Gehirns äußern. Die Aufgabe der Mikroglia ist es, das Gehirn vor Schäden zu schützen, dabei richten sie ggf. verheerende Schäden an. Wie lassen sich die wild gewordenen Mikroglia stoppen und zu einer angemessenen Reaktion führen?

Ein überaktives Immunsystem führt also zu einer Überaktivierung der Gehirn-Immunzellen. Es gibt somit keine Trennung zwischen der Gesundheit des Körpers und der des Gehirns. Damit kommt man schnell auf die Zusammenhänge zwischen Entzündungsvorgängen und dem Mikrobiom des Darms. Über eine Feedbackschleife verstärken sich Entzündungen im zentralen Nervensystem und beeinflussen Verhalten und Stimmung über den direkten Einfluss auf die Neurotransmitter (Botenstoffe) des Gehirns.

Ansatz der Behandlungen ist daher vor allem das Mikrobiom, um beruhigende Signale an die Mikroglia auszusenden. Hier leistete der Wissenschaftler und Altersforscher Valter Longo Pionierarbeit: er erforschte die Wirkung von Fasten auf Herz-/ Kreislauferkrankungen und wurde mit seiner de Longevità-Ernährung weltbekannt. Er konnte feststellen, dass beim Fasten das Immunsystem herunterreguliert wird. Bei Neustart werden defekte Zellen eliminiert und neue Stammzellen beginnen mit den Reparaturen.

Zurück zu den Mikroglia. Im Falle der Patienten mit Neuroinflammation erwies sich die Strategie von Valter Longo als überaus erfolgreich, so auch bei der Freundin von Donna Jackson Nakazawa. Intervallfasten mit einer entzündungsarmen, nährstoffreichen und kalorien- und kohlenhydratreduzierten Ernährung tut dem Mikrobiom gut und beruhigt die Mikroglia.

Fazit: Psychische und kognitive Störungen sind Immunstörungen, die sich im Gehirn widerspiegeln, weil es mit den Mikroglia auch dort an Immunreaktionen beteiligte Zellen gibt. Pharmazeutische Produkte, z.B. im Falle von Depressionen, sind daher wenig erfolgreich, weil sie nur die Symptome lindern, aber nicht an der Quelle, der Entzündungsreaktion, ansetzen. Mit einem artgerechten Lebensstil lassen sich diese Entzündungen reduzieren oder heilen, z.B. über die Ernährung. Die übrigen bekannten Lebensstilfaktoren spielen natürlich auch eine Rolle dabei, wie z.B. die Reduzierung von chronischem Stress.
Dieses Buch habe ich seit seiner Ankündigung mit Spannung erwartet und bin begeistert. Es ist durch die Patienten”fälle” leicht zu lesen und auch die Vorgänge in den Immunsystemen und im Gehirn sind gut erklärt. Sehr empfehlenswert!