Wie der Lebensstil über die kognitiven Fähigkeiten im Alter entscheidet

30% der Menschen bekommen Alzheimer, dabei ist über Studien längst bewiesen, dass die Prävention über einen veränderten Lebensstil das Risiko gegen Null senkt. Weshalb werden nicht die Motivation und Energie aufgebracht, sehr einfache Maßnahmen wie gesunde, artgerechte Ernährung und Bewegung in die Tat umzusetzen? Der Grund liegt in der Struktur unseres Gehirns, das zwei Denkstrategien nutzt, für die Daniel Kahnemann mit „Schnelles Denken, langsames Denken“ 2002 zusammen mit einem Kollegen den Nobelpreis erhalten hat.

Das schnelle Denken von System 1 verwenden wir im Alltag. Es ruft Reaktionen über gelerntes Verhalten ab und setzt es automatisiert um. Dies ermöglicht uns, ökonomisches Denken und Arbeiten und schnelles Reagieren und eignet sich daher besonders für Routinetätigkeiten. Es wird aber auch benutzt, wenn Gefahr in Verzug ist und es vorrangig auf Reaktionsgeschwindigkeit ankommt, um das Überleben zu sichern.

System 2 dagegen nutzt das langsame Denken, das bei komplexen Zusammenhängen erforderlich ist und auch, um neue, kreative Lösungen zu finden und Entscheidungen in schwierigen oder neuen Situationen zu treffen. Wer bei Problemstellungen also mit System 1 denkt und zu schnellen Antworten kommt, neigt dazu, alte Lösungen auf neue Zusammenhänge zu übertragen. Das geht häufig schief.

Das System 2 benötigt jedoch sehr viel mehr Energie, und das Gehirn neigt dazu Energie zu sparen, weil es bereits einen sehr hohen Grundumsatz hat. Wo kommt die Energie dafür her und weshalb bringen so viele Menschen diese nicht auf? Und was macht diese Energie aus? Es handelt sich dabei nachweislich nicht um die Energie durch Nahrungsaufnahme und deren Umwandlung in Glucose, denn z.B. Fasten erleichtert die Aktivierung von System 2.

Der Molekulargenetiker und Arzt Michael Nehls forscht sich seit vielen Jahren zum Thema Alzheimer-Erkrankungen. Seine veröffentlichten Bücher sind Longseller. Er hat herausgefunden, dass, wenn einmal am Tag System 2 benutzt wurde, die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass am selben Tag dieses für komplexe Entscheidungen notwendige System nochmals benutzt wird. Wo im Gehirn steht diese mentale Energie zur Verfügung, und weshalb ist sie begrenzt?

Auf den Spuren nach der mentalen Energie entwickelte Nehls fundamentale Kriterien, die dieser Gehirnteil erfüllen müsste. Fündig wurde er im Hippocampus, der bei einem Teil der demenziellen Erkrankungen als Erstes betroffen ist.
Wenn wir Zusammenhänge gedanklich bearbeiten, benötigen wir dazu vergangene Erfahrungen, die wir über den Hippocampus abrufen. Wir  bekommen damit eine große Datenmenge, die im Frontalhirn nicht verarbeitet werden kann, weil dort nur das Kurzzeitgedächtnis als Arbeitsspeicher sehr kurz und nur für begrenzte Datenmengen zur Verfügung steht. Der Hippocampus ist der einzige Teil des Gehirns, der in der Lage ist, Gedanken für die Verarbeitung festzuhalten, mit starken Emotionen verbundene sogar lebenslang. Zusätzlich hält der Hippocampus die Raum-/ Zeitkoordinaten fest, über die der Zugriff auf das Langzeitgedächtnis erfolgt.

Dieser Speicher für System 2 liegt in den begrenzten Synapsen des Hippocampus, die im Laufe des Tages voll belegt werden. Nachts im Tiefschlaf werden die neuen Lernvorgänge aus dem Hippocampus in den Neocortex hochgeladen. Danach sind die Synapsen des Hippocampus wieder frei für neue Erfahrungen und die Nutzung des Systems 2.
Wer schlecht schläft, hat daher häufig keine Möglichkeit mehr, System 2 zu nutzen, das System, das zudem für soziales Zusammenleben in der Gesellschaft eminent wichtig ist. Ein Indiz für beginnende Alzheimer-Demenz ist daher viele Jahre vorher schlechter oder ungenügender Schlaf.

Weshalb aber nutzen die meisten Menschen nicht die einfachen Möglichkeiten, einem kognitiven Abbau vorzubeugen? Nehls Schlussfolgerung ist so verblüffend wie einfach: präventive Maßnahmen gegen Alzheimer sind für viele Menschen nicht möglich, weil sie bereits ein abgeschaltetes System 2 haben und nicht mehr in der Lage sind, das weitgehend automatisierte Tun zu reflektieren und in einem nächsten Schritt auch konsequent umzusetzen.

Für die Aktivierung von System 2 ist ein aktiver Hippocampus erforderlich. Er ist übrigens interessanterweise einer der wenigen Teile des Gehirns, der in der Lage ist, über die Neurogenese täglich und lebenslang (!) neue Nervenzellen zu bilden. Überleben können diese Babyneuronen aber nur, wenn Bedarf besteht, sie also im neuronalen Netz benötigt werden. In der westlichen Bevölkerung geht stattdessen messbar die Neurogenese jährlich um 1% zurück, statt zu Wachstum findet ein Schrumpfen des Hippocampus statt.

Die stetige Zunahme von Depressionen ist ein indirekter Marker für einen gestörten Hippocampus. Je kleiner der Hippocampus ist, desto wahrscheinlicher ist, das der Prozess in Richtung Alzheimer-Erkrankung bereits stattfindet. Deutliches Zeichen für die hippocampale Schrumpfung sind Angst und Panik (-mache). Angst hat ihre Ursache in gestörter Neurogenese! Ggf. geht dann eine ganze Gesellschaft in den Angstmodus, die somit ausschließlich System 1 nutzt. Lösungen werden damit nicht gefunden, nur bekannte und nutzlose Maßnahmen wiederholt.

Welche Voraussetzungen benötigt der Hippocampus? Wie lässt sich sein Wachstum anregen? Nicht überraschend sind es die Lebensbereiche, die evolutionär eine wichtige Rolle spielten: Nahrung aus dem Meer (DHA aus Omega-3-Fettsäuren mit anti-entzündlicher Wirkung), das Hormon Vitamin D, Bewegung, Oxytocin durch gesunde soziale Beziehungen.
Große Erfolge erzielt man bereits durch das Weglassen von Zucker und einfachen Kohlenhydraten, die schnell zu Zucker verstoffwechselt werden. Dies führt zu Entzündungsprozessen und Insulinresistenz im Gehirn. Die Gehirnzellen verhungern dann buchstäblich vor vollem Teller und führen zum Schrumpfen des Gehirns, insbesondere des Hippocampus und zwar altersunabhängig!

Fazit: seit Erscheinen habe ich das Buch 2x gelesen, es war sicher nicht das letzte Mal. Empfehlenswert ist es für alle, die einen kleinen Einblick in ihr Gehirn bekommen wollen und auch für diejenigen, denen es bisher nicht gelungen ist, ihre Vorsätze für einen gesunden Lebensstil in die Tat umzusetzen.