Die Epidemie der Erschöpften

Dieses Buch des Bestsellerautors Steven R. Gundry habe ich mit Spannung erwartet. Der Chirurg und Kardiologe hat nach jahrzehntelanger Tätigkeit seinen Schwerpunkt auf die Heilung chronischer Erkrankungen durch Ernährungsumstellung gelegt. In seinen Titeln Böses Gemüse und Das Paradox des langen Lebens beschreibt er seine Erkenntnisse und Erfahrungen aus den beiden Kliniken, die er in den USA betreibt. Daneben hat er mehrere Hundert peer-reviewte Artikel in namhaften Fachzeitschriften veröffentlicht.

In seinem neuen Werk beschreibt er die Auswirkungen eines permanent überaktiven Immunsystems durch stille Entzündungsprozesse. Um das Überleben zu sichern, hat im Organismus das Immunsystem immer Vorrang vor anderen Prozessen. Bei Daueraktivierung kommen andere Prozesse zu kurz und es kommt zu Krankheitssymptomen, die nicht auf den ersten Blick als solche erkennbar sind, aber immer Vorläufer chronischer Erkrankungen sind. Müdigkeit und Erschöpfung stehen in der Betrachtung im Mittelpunkt: sie sind Signale des Körpers, dass er mit Entzündungen kämpft und Ruhe benötigt. Bei akuten Infektionen ist dies durchaus auch sinnvoll, wird jedoch zum Lebensproblem, wenn die Entzündungsprozesse nahezu unbemerkt in Hintergrund dauerhaft weiter ablaufen.

Etwa 80 Prozent des Immunsystems befinden sich im Darm. Störungen und entzündliche Prozesse beginnen häufig im Darm und haben immer auch Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit des gesamten Organismus. Im Falle eines Angriffs durch fremde Proteine oder Viren, reagiert das Immunsystem, indem es die Aggressoren eliminiert. Dabei kann es zu Kollateralschäden kommen, bei denen auch gesunde Darmzellen zerstört werden. Deren verbleibende Fragmente, sog. Lipopolysaccharide (LPS) stellen eine zusätzliche Störung dar, weil sie die Darmschleimhaut angreifen. Ist diese bereits sehr dünn oder beschädigt, besteht also ein Leaky gut, können diese Fremdeiweiße und vom Immunsystem als Aggressoren betrachteten Proteine auch ins Blut- und Lymphsystem gelangen. Die Entzündungskaskade hat damit begonnen.

Durch den Verzehr lektinhaltiger, eigentlich durch ihren Proteingehalt als gesund betrachtete Hülsenfrüchte, kann das bestehende Problem deutlich größer werden. Das Immunsystem befindet sich dann in einem Zustand permanenter Aktivierung, einem Zustand der stillen Entzündung, der einen beträchtlichen Teil der zur Verfügung stehenden Energie bindet. Die Folge sind Müdigkeit und Erschöpfung sowie fehlende Kapazitäten in der Abwehr von Krankheitserregern.

Eine immer noch unterschätzte Rolle spielt die Kommunikation des Mikrobioms, der Gesamtheit der Darmbakterien, mit dem Immunsystem, das zu 80% im Darm sitzt. Sendet das Mikrobiom andauernd entzündungsfördernde Signale, kommt das Immunsystem nicht zur Ruhe. Zudem kommuniziert das Mikrobiom mit den Mitochondrien, die sich evolutionsgeschichtlich aus Bakterien entwickelt haben. Mitochondrien werden daher auch oft als die „Geschwister“ der Darmbakterien bezeichnet. Mitochondrien haben vielfältige Funktionen, die wichtigste ist die eines Zellkraftwerkes. Je nach Zellart sind in einer Zelle bis zu mehreren tausend von ihnen vorhanden, deren Hauptaufgabe es ist, ATP (Adenosintriphosphat) als Energieträger zu produzieren. Wichtigster „Kunde“ für ATP ist das Gehirn. Ist die Produktion gestört, wirkt sich das schnell auf die Leistungsfähigkeit des Gehirns aus.

Das Mikrobiom wird aufgrund seiner zentralen Bedeutung auch als zweites Gehirn bezeichnet, wobei derzeit die Meinungen auseinandergehen: es gibt Forscher, die das Mikrobiom sogar für weitaus wichtiger halten als das Gehirn im Kopf. Klar ist jedenfalls, dass ein Vielfaches mehr an Informationen vom Darm zum Gehirn gehen als umgekehrt. Das Mikrobiom kommuniziert über verschiedene Systeme direkt mit dem Gehirn, u.a. über den Vagus, den längsten Gehirnnerv, der große Teile des Körpers durchzieht. Zusätzlich wirken Zytokine als Entzündungssignale in inflammatorischer oder anti-inflammatorischer Richtung. Sie können die Blut-Hirn-Schranke überwinden und im Gehirn die Mikroglia aktivieren, die neben ihrer Aufgabe als Versorgungszellen des Gehirns auch die Funktionen des Immunsystems im Gehirn innehaben. Entzündungen sind zunächst eine natürliche Reaktion des Körpers, als gefährlich eingestufte Störfaktoren zu beseitigen und wieder in die Homöostase zurückzukehren. Hält der Zustand an, entsteht im Gehirn die Neuroinflammation als Form der stillen Entzündung.

Dr. Gundry hat aus seiner jahrzehntelangen praktischen Erfahrung mit seinen Patienten ein Ernährungs- und Lebensstilkonzept entwickelt, das diesen stillen Entzündungen entgegenwirkt und damit chronische und als unheilbar eingestufte Erkrankungen heilen oder zum Stillstand bringen kann. Pflanzliche Ballaststoffe und kurzkettige Fettsäuren wie Butyrate unterstützen die Gesundheit des Darms. Kontraproduktiv sind Vollkornprodukte und die zahlreichen lektinhaltigen Nahrungsbestandteile. Ein gesundes Mikrobiom ist also bedingt durch eine darmgesunde Ernährung, die Dr. Gundry detailreich beschreibt. Essen sollten wir also vorrangig nicht das, was uns schmeckt, sondern das, was unseren Bakterien schmeckt und das ganz nebenbei somit auch eine schützende Wirkung auf das Gehirn hat.

Zucker und einfache Kohlenhydrate stellen sowohl für den Darm als auch für das Gehirn ein massives Entzündungsproblem dar. Zudem kann Zucker nicht nur im Körper, sondern auch im Gehirn zur Insulinresistenz führen. Die Folge ist ein Gefühl ständiger Unterzuckerung, das durch Zufuhr von Zucker und Kohlenhydraten nicht lösbar ist. Nervenzellen werden dann nicht mehr ausreichend ernährt und sterben ab. Dies wird als Grundstein für die Entwicklung einer Vielzahl demenzieller Erkrankungen betrachtet.

Ernährung ist nicht zuletzt aber auch eine Frage des richtigen Zeitpunkts. Dass es nicht hilfreich ist, am späten Abend noch zu essen, hat sich herumgesprochen, ebenso die Wirksamkeit von Intervallfasten. Dr. Gundry hat aus den Erfahrungen seiner Kliniken einen Ernährungsplan entwickelt, der von einer Essensaufnahme über maximal 8 Stunden ausgeht und auf Zwischenmahlzeiten und diverse Häppchen verzichtet. Monodiäten jeder Art hält er für kontraproduktiv, empfiehlt jedoch, den Tag mit einer Monomahlzeit zu beginnen. Diese sollte entweder aus Kohlenhydraten oder Protein bestehen. Den Erfolg von auf Monodiäten basierenden Ernährungsweisen wie ketogene Ernährung, führt er auf die Entlastung der Mitochondrien zurück, die bei gleichzeitiger Zufuhr unterschiedlicher Makronährstoffe über unterschiedliche Stoffwechselwege belastet werden. Kommen zu viele verschiedene gleichzeitig an, kommt es zum Stau und zur Überlastung der Mitochondrien.

Fazit: Dieses Buch ist eine Quelle neuester Forschungsergebnisse für Neueinsteiger ins Thema ebenso wie für sehr Belesene. Alle Thesen sind sorgfältig mit im Anhang aufgeführten Quellen belegt. Der Rezeptteil macht zusätzlich Lust auf eine schnelle und konsequente Umsetzung. Ein Teil mit den aus seiner Sicht wichtigsten Mikronährstoffen rundet den Rezeptteil ab.